Kunst und Wissenschaft

Bild: Jan Sobottka

Robert Kudielka über Kunst und Wissenschaft

Wir sprachen mit Robert Kudielka über Hermann von Helmholtz‘ Beziehung zur Bildenden Kunst und dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft heute.

Robert Kudielka ist Kunstwissenschaftler und Mitglied der Berliner Akademie der Künste sowie emeritierter Professor an der Universität der Künste Berlin. Kudielka interessiert sich besonders für abstrakte Malerei und die visuelle Wahrnehmung. Er ist in seiner Forschung zum Impressionismus erstmals auf Helmholtz‘ Arbeiten gestoßen.

Lieber Herr Kudielka, zunächst bitte die einleitende Frage: Was ist Kunst, was ist Wissenschaft?

Die Frage "Was ist Kunst?" ist sozusagen die Anti-Kunstfrage. Picasso hat darauf geantwortet: "Wenn ich es wüsste, würde ich es für mich behalten." Denn es ist die Frage, die in der griechischen Kultur am Anfang der philosophisch-wissenschaftlichen Denkweise steht. Nämlich: Τι είναι? Diese Frage des Sokrates: "Was ist?" So fragen die Philosophie und die Wissenschaften. Künstler denken nicht so. Bei der Kunst geht es nicht darum, was etwas ist, sondern um das "Gut-sein" dessen, was geschaffen wird - das Kunstwerk. Es ist ein grundverschiedenes Interesse, zu fragen, was ist das Gute, und gute Kunstwerke zu machen. Paul Valéry hat das in einem frühen Aufsatz klar herausgestellt: "Die Maler und die Dichter streiten nur um den Rang (le rang)." Also, wie gut das ist, was sie machen. "Die Philosophen streiten um das Sein (l'existence)." Was ist das, was ist?

Welche Bedeutung hat Hermann von Helmholtz und seine Forschung für die bildende Kunst?

Hermann von Helmholtz ist von eminenter Bedeutung für die Kunstwissenschaft, was freilich lange Zeit nicht gesehen worden ist.  Denn er hat etwas bemerkt und eine Frage gestellt, die für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts zentral ist, nämlich die Frage nach der Wahrnehmung. Das ist der Ausgangspunkt seiner Beziehung zur Kunst. Helmholtz hat als Physiker gesehen, dass alle Vorstellungen, die man normalerweise mit Farben und Formen verbindet – etwa in den gängigen Farbtheorien oder in der Geometrie – in der Kunst nicht dieselbe Bedeutung haben wie in der Optik oder in der Mathematik. Man kann theoretisch begreifen, wie die Farben im Spektrum auseinandertreten, exakt definieren, was ein Dreieck oder ein Kreis ist, aber die Wahrnehmungsweise von Formen und Farben in der Malerei ist eine andere. 

Hier berührt sich das Kunstinteresse des Wissenschaftlers Helmholtz mit Goethes Farbenlehre. Goethe legt sich ja nicht bloß deswegen mit Newton an, weil er glaubt, die objektiv richtigere Erkenntnis gefunden zu haben. Der Schlüssel zu seiner Farbenlehre ist, dass sie eben gerade nicht mit den physikalischen Bestimmungen beginnt, sondern mit der physiologischen Seite der Farbwahrnehmung. Newton ist für Goethe auf einer ganz anderen, weltanschaulichen Ebene der Widersacher schlechthin. Für Goethe ist die Vorstellung, dass der Mensch dazu berufen sei, Beobachter der Welt zu sein, schlichtweg inakzeptabel, ein Irrtum. In Goethes Sicht sind wir Teilnehmer am Geschehen der Welt! Deshalb beginnt seine Farbenlehre mit den sogenannten physiologischen Farben, den Nachbildern und farbigen Schatten, das heißt, mit der Art und Weise, wie wir als Sehende in die Farbwahrnehmung eingebunden sind und daran mitwirken.

Das ist, glaube ich, der entscheidende Berührungspunkt zwischen Helmholtz und dem Dichter. Nicht die Farbenlehre an sich, sondern die Aufmerksamkeit des Künstlers auf die konstitutive Rolle der Wahrnehmung. Dass sich Tendenzen der zeitgenössischen Malerei im 19.Jahrhundert in einer ähnlichen Richtung bewegten, scheint, zumindest meiner Kenntnis nach, außerhalb des Gesichtskreises von Helmholtz geblieben zu sein. Sein Interesse an der Kunst gilt der Kunst der Museen, vor allem der großen Malerei der Renaissancetradition. Als Naturwissenschaftler tut er etwas, was Kunstwissenschaftler lange nicht getan haben (und viele bis heute nicht tun), er fragt sich: Was geschieht in der Wahrnehmung von Bildern? Wie stellen sich die natürlichen Gegebenheiten der Anschauung in der Kunst der Malerei dar? Dadurch ist er zu einem überaus fruchtbaren Anreger des Nachdenkens über die Wirkungsweise von Kunstwerken geworden.  

Weshalb konnten Menschen wie Leonardo da Vinci oder Hermann von Helmholtz beide Kulturformen - Kunst und Wissenschaft - miteinander verbinden? Und weshalb scheint es, dass dies heute nicht mehr geht?

Die Möglichkeit dieser Verbindung bestand darin, dass die europäische Malerei seit dem Ausgang des Mittelalters für fast ein halbes Millennium maßgeblich auf die umfassende und möglichst adäquate Wiedergabe der natürlichen Welt hin ausgerichtet war. Damit berührte sich die Praxis der Bildkunst mit dem Erkenntnisinteresse der Wissenschaften.

Leonardo da Vinci studiert die Phänomene, die er darzustellen beabsichtigt, geht ihnen auf eine einzigartige Weise forschend nach, nicht, weil er das Wesen der Dinge oder die Gesetzmäßigkeiten der Welt ergründen will, sondern weil er das offenbare Geheimnis der Schöpfung so klar und gut wie möglich zu fassen sucht. Deshalb forscht er, wie sich das Wasser bewegt; analysiert die Energie von Stürmen und Katastrophen; beobachtet, welche Veränderung mit den Farben bei zunehmender Entfernung, in der sogenannten Luftperspektive, vor sich geht; rekonstruiert, wie der menschliche Bewegungsapparat gebaut und der Organismus zusammengesetzt ist. Aber all dies hat für ihn nur zum Ziel, dem Geheimnis der Schöpfung näher zu kommen, sich in der dunklen Höhle, wie er sehr schön gesagt hat, zu orientieren. Schon von den damaligen Bewunderern ist beklagt worden, insbesondere von Vasari, dass er sich zu intensiv mit den Erscheinungen beschäftigt und nicht mehr Bilder gemalt habe. Manche seiner Entdeckungen sind in seine Bilder eingegangen, viele aber auch nicht. Aber die Leidenschaft des Forschers, die hinter seiner Malerei steht, macht gerade die Anziehungskraft, die vielbewunderte Rätselhaftigkeit seiner Bilder aus.

Ähnlich wie Leonardo als Künstler nicht auf eine naturwissenschaftliche Erkenntnis der Phänomene abzielt, ist Hermann von Helmholtz als Physiker nicht an der ästhetischen Beurteilung von Kunstwerken interessiert. Obschon ein ausgewiesener Kunstkenner, klammert er die ästhetische Problematik in seinen Untersuchungen weitgehend aus. Im Übrigen ist er, wie er uns in seinen Vorträgen "Optisches über Malerei" (1871-1873) wissen lässt, der Überzeugung, dass ästhetische Vorschriften für die Kunst nichts bedeuten. Eine erstaunliche Einsicht! Helmholtz' Augenmerk gilt allein der Art und Weise, wie sich die optische Wahrnehmung von Licht, Farbe, Raum in Gemälden von der physikalischen Auffassung derselben Phänomene in der Natur unterscheidet – inwiefern die Bildwahrnehmung grundsätzlich anders funktioniert. Das ist der zentrale Punkt, weswegen der Naturwissenschaftler Helmholtz an der Malerei interessiert ist.

Dabei kommt er zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung, die ich in meiner eigenen Arbeit immer wieder zitiert habe. Helmholtz resümiert: "Neben den wirklichen Beleuchtungsverhältnissen der Aussenwelt spielen also unverkennbar die verschiedenen physiologischen Zustände des Auges eine ausserordentlich einflussreiche Rolle bei dem Werke des Künstlers. Was er zu geben hat, ist hiernach nicht mehr eine reine Abschrift des Objektes, sondern die Übersetzung seines Eindruckes in eine andere Empfindungsscala, die einem anderen Grade von Erregbarkeit des beschauenden Auges angehört, bei welchem das Organ in seinen Antworten auf die Eindrücke der Aussenwelt eine ganz andere Sprache spricht."

Keine "Abschrift des Objektes", oder wie er später sagen wird: kein "Abbild". Helmholtz hat sehr genau gesehen, dass es zwischen den Zeichen und dem, was sie bezeichnen, keiner Art von Ähnlichkeit oder Gleichartigkeit bedarf, damit sie als Zeichen lesbar werden. Das ist eine große Einsicht, die immer noch nicht zureichend ins Bewusstsein der Kunstbetrachter und -interpreten gedrungen ist. Schauen Sie sich beispielsweise die Bilder von Claude Monet an, die gegenwärtig in Potsdam im Museum Barberini gezeigt werden. Keine seiner Landschaften hält der direkten Überprüfung vor dem Motiv stand, die einzelnen Farben und der Farbzusammenhang im Ganzen sind nicht wirklich vergleichbar. Dennoch hat niemand die Empfindung beispielsweise eines frischen Wintermorgens treffender wiedergegeben als Monet. Oder nehmen Sie die späten Porträts von Picasso. Selbst Experten sprechen da gerne von "formalen Untersuchungen" oder gar "Spielereien". Völliger Unfug! Picasso hat immer versucht, der Präsenz einer Person, ihrem Charakter im Bild so nahe wie möglich zu kommen. Wenn dabei das tatsächliche Aussehen bis an die Grenze der gegenständlichen Vergleichbarkeit entstellt wird, handelt es sich doch nicht um eine willkürliche Verzerrung, eine bewusste Karikatur. Picassos Porträtkunst beruht vielmehr auf der "Übersetzung seines Eindrucks in eine andere Empfindungsskala, die einem anderen Grade von Erregbarkeit des beschauenden Auges angehört."

Kurzum, Hermann von Helmholtz hat die ursprüngliche, von der ästhetischen Herangehensweise in der Regel kaum beachtete Abstraktheit der Bildkunst (die für die spätere, erklärtermaßen abstrakte Kunst grundlegend ist) offengelegt. Das entspricht durchaus einem allgemeinen Wandel im Selbstverständnis der Künstler um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Wenn beispielsweise Mallarmé als Ziel von Literatur ausgibt, dass sie die Dinge nicht "benennen" (nommer), sondern mit den Mitteln der Kunst "hervorrufen" soll (évoquer les objets), dann scheint das auf der Linie von Helmholtz zu liegen. Gleiches ließe sich von der Malerei der Impressionisten sagen. Allerdings hätte diese Resonanz in den zeitgenössischen Kunstbestrebungen, wäre sie Helmholtz bekannt gewesen, den Kunstkenner wohl eher irritiert. Denn in ästhetischer Hinsicht ist sein Kunstverständnis eindeutig durch den Klassizismus geprägt: Übersetzung bedeutet für ihn schlicht die Möglichkeit der Veredelung des rohen Eindrucks. Aber was er als Wissenschaftler gesehen hat, ist eine moderne Einsicht, deren volle Tragweite erst im 20. Jahrhundert sichtbar geworden ist: Wie sich die Zeichen der bildenden Kunst zu dem, was sie bezeichnen, verhalten – nämlich nicht notwendig in der Weise von Ähnlichkeit oder Gleichartigkeit.  

C. P. Snow und dessen These der „Two Cultures“, die nicht miteinander sprechen können: was ist davon zu halten? Und welche Rolle spielen Sprache, Ästhetik und Wahrheit in Kunst und Wissenschaft?

Es ist schwierig, im Blick auf Kunst und Wissenschaft Snows Unterscheidung der "Two Cultures" in Anschlag zu bringen, denn es verleitet dazu, die Kunst pauschal der Kultur des ästhetischen Humanismus zuzurechnen. Das ist jedoch zu oberflächlich, zu geisteswissenschaftlich gedacht. Natürlich denken wir heute zuallererst an Kunst, wenn wir von Kultur sprechen, aber das ist eine höchst beschränkte und in letzter Konsequenz irreführende Vorstellung, die nur zeigt, wie armselig und abstrakt unser Kulturbegriff geworden ist. In Jacob Burckhardts Lehre von den drei historischen Potenzen umfasste die Kultur – im Unterschied zu Staat und Religion – noch die Gesamtheit der freien gesellschaftlichen Lebensäußerungen, einschließlich Wirtschaft und Wissenschaft.

Andererseits macht die moderne Blickverengung unwillkürlich auf die Sonderstellung der Kunst innerhalb der Kultur aufmerksam. Fest steht: ohne Kultur gibt es keine Kunst. Das ist die Grundlage. Es muss eine gewisse Leichtigkeit des Lebens, ein bestimmtes Maß an Freiheit der Menschen von den Zwängen der Natur und im Umgang miteinander gegeben sein, damit überhaupt Kunst entstehen kann. Die Entstehung der Höhlenmalerei vor circa 20.000 Jahren auf der franko-kantabrischen Ebene ist womöglich so etwas wie eine Urszene. Erst als die Eiszeit vorüber und das Klima erträglich geworden war, ausreichend Nahrung beschafft werden konnte und bereits Formen von Handwerklichkeit, ja vielleicht sogar schon Anfänge von Sprache ausgebildet waren, scheint das Verlangen wach geworden zu sein, den kolossalen Widerspruch dieser Jägerkultur zu artikulieren: Die Menschen des Jungpaläolithikums begegneten in den Tieren, die sie töten mussten, um zu überleben, einer Macht, die größer war als sie selbst und durch den vereinzelten Jagderfolg nicht bezwungen wurde. Die Bilder auf den Felswänden der Höhle von Lascaux entgelten diesen schicksalhaften Widerspruch durch die hinreißende Vitalität und Pracht der Tierdarstellungen.

Eine ähnliche Konstellation ist in fast allen großen Kunstepochen zu beobachten: Die herausragenden Kunstwerke verhalten sich oft komplementär zu den vorherrschenden Tendenzen einer Kultur. Jacob Burckhardts Klassiker "Die Kultur der Renaissance in Italien" (1860) mag in Details überholt sein, aber die Grundkonzeption bleibt maßgeblich: Das Zeitalter der Entfaltung des Humanismus ist auch – und nicht nur nebenher – eine Epoche der Entfesselung der menschlichen Natur. Wer die milde Stimmung der Madonnenbilder, die feinen Züge der Porträtierten bei Raphael und seinen Mitstreitern als direkten Ausdruck des Zeitgeistes ansieht, täuscht sich; die Verherrlichung der edlen Geschöpflichkeit des Menschen ist eher ein Gegenbild zu den realen Exzessen des Renaissance-Menschen.

Das eigentliche Beispiel, dass mich dazu gebracht hat, über das Spannungsfeld von Kunst und Kultur nachzudenken, ist die Situation im 19. Jahrhundert. In einer Zeit rasanter wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Fortschritte entsteht ausgerechnet in Frankreich, in einer Kultur, die bekanntlich nicht von der deutsch-englischen Natursentimentalität angefochten ist, eine moderne Malerei, die gegen die Konventionen der offiziellen Atelierkunst das Malen im Freien, en plein air, in und vor der Natur zur Arbeitsgrundlage machte. Ein größerer kultureller Antagonismus scheint kaum denkbar. Trotzdem standen die Maler, die unter dem Schlagwort Impressionismus berühmt wurden, dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht rundheraus kritisch oder gar ablehnend gegenüber. Monet beispielsweise ließ sich begeistert mit dem Auto durch die Landschaft chauffieren; und dass die Bahnlinie von Paris nach Le Havre durch seinen legendären Garten führte, hat den Maler des Seerosenteichs anscheinend nicht gestört. Allerdings verdross es ihn, dass seine beiden Söhne den damaligen Modeberuf des Erfinders anstrebten. Erfinden scheint für den Künstler, der er war, offenbar keine seriöse Tätigkeit gewesen zu sein.

Das Neuartige der Kunst von Monet, Pissarro und Cézanne rührte daher, dass diese Maler en plein air Ernst mit der Erfahrung machten, dass die Natur keine direkte Abbildung erlaubt, weil sie kein "Bild" ist. Nicht nur, dass sich die Wahrnehmung nicht mit den bekannten Vorstellungen von Natur deckte: so etwas wie ein Bild, das der Fülle und Beweglichkeit der Wahrnehmungen entsprach, war überhaupt erst einmal zu schaffen. Damit war der Konflikt mit den Erwartungen des Publikums vorgezeichnet. Selbst Advokaten des Neuen in der Kunst wie Joris-Karl Huysmans kritisierten die auffallende Dominanz von Lila-Violett in den Bildern als "indigomanie"; und es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass eine Malerei der lebendigen Interaktion von Farbe und Licht in der Natur eben wegen dieser Frequenz als Kunst aus der morgue, dem Leichenschauhaus karikiert wurde.

Der Schock scheint deswegen so tief gewesen zu sein, weil er von einer doppelten Verletzung herrührte: dem Bruch mit der durch die klassizistische Landschaftsmalerei geprägten Vorstellung von Natur und, ineins damit, der Abwendung vom historischen, auf die Sammlungen der Museen gegründeten Bildungsbegriff von Kunst. Interessanterweise hat in der späteren Rezeption dieser Malerei – in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts – der Versuch Anklang gefunden, die anfängliche Schockreaktion dadurch zu erklären, dass man die Parallelität des künstlerischen Vorgehens zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen der zeitgenössischen Wahrnehmungsforschung nicht gesehen habe. In der Tat scheinen sich Wissenschaft und Kunst seit dem Quattrocento niemals wieder so nahe gewesen zu sein, wie in dieser Frühphase der modernen Malerei: Der Primat der Wahrnehmung ist der gemeinsame kulturelle Nenner. Dennoch darf die geisteswissenschaftliche Fiktion des Zeitgeistes nicht dazu verführen, nachträglich, wie dies immer wieder geschehen ist, die Differenz gering zu schätzen. Die Malerei en plein air hat sich nicht von wissenschaftlichen Theorien inspirieren oder gar gängeln lassen. Vor allem Monet und Cézanne haben sich unmissverständlich dazu bekannt, dass Delacroix der Wegbereiter war – und nicht Chevreul. Obschon in der Wahl seiner Sujets nach wie vor der Historienmalerei verpflichtet, hat Delacroix, wie sein Journal bezeugt, für das Kolorit seiner Bilder ein intensives Studium der Wahrnehmungsphänomene in der Natur betrieben, weil ihm die Kunst der Museen die Augen dafür geöffnet hatte, dass die zeitgenössische Salonmalerei, die ihr Vokabular allein aus dem Museum bezog, einfach nicht "gut genug" war…

Damit sind wir wieder beim Grundunterschied zwischen Kunst und Wissenschaft. Während die Wahrnehmungstheoretiker des 19. Jahrhunderts die empirischen Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Erscheinungswelt festzustellen suchten, machten sich die plein air-Maler daran, dem fluktuierenden Leben der Erscheinungen – dem "spectacle", wie Cézanne sagte – ein angemessenes Gesicht zu geben. In kultureller Hinsicht bedeutete das, dass die Kunst der Malerei in einer Zeit, die von dem wissenschaftlich-technischen Optimismus besessen war, die Natur als Gegenstand beherrschbar und nutzbar machen zu können, in der Gegenrichtung Bilder schuf, die die Unverfügbarkeit der Natur als ein lebendiges und belebendes Gegenüber des Menschen herausstellten. "Gegen" ist hier nicht in einem verneinenden oder gar feindlichen Sinne zu verstehen, sondern eher als ergänzende Erwiderung. Ohne den technologischen Fortschritt der synthetischen Farben in Tuben wäre, nebenbei bemerkt, die Malerei im Freien praktisch kaum möglich gewesen. Unterstellt man einmal, mit einem großen Wort, dass es in der Kunst wie in der Wissenschaft um Wahrheit geht, dann ist das Gelingen eines Kunstwerks doch etwas Anderes als die Gewissheit von Erkenntnis.  

Ein Widerspruch?

Ja, aber das eine schließt das andere nicht aus, sofern die Grenze beachtet wird. Genau das haben große Wissenschaftler wie Hermann von Helmholtz erkannt. Der Blick auf die Kunst hilft unter Umständen, die eigene Wahrnehmung zu schärfen und Dinge zu bemerken, die einem Fachwissenschaftler gar nicht auffallen würden. Zu Beginn der Vortragsreihe "Optisches über Malerei" bekennt Hermann von Helmholtz ein wenig zu bescheiden, dass er eigentlich kein Experte in dem "schönen Lande der Kunst" sei, sondern eher ein "Wanderer", der "über ein steiles und steiniges Grenzgebirge" dorthin gelangt sei – "dabei aber", fährt er fort, "auch manchen schönen Aussichtspunkt erreichte, von dem herab sich eine gute Ueberschau darbot."

Der Erkenntnisgewinn ist beidseitig. Mir hat bei meinen Forschungen zum Kolorismus in der europäischen Malerei zum Beispiel sehr geholfen, dass Helmholtz die epochale Farbmalerei der Venezianer einmal durch die Brille des Sinnesphysiologen betrachtet hat. Dass die Balance des Farbzusammenhangs bei Tizian auf den Grundfarben Blau und Rot beruht, ist eine offensichtliche, altbekannte Tatsache. Aber wie steht es mit dem Kolorit bei Veronese, der bis weit ins 19. Jahrhundert hinein unter Malern den Ruhm genoss, der exemplarische Kolorist zu sein? Anders gefragt: Wie gelingt es Veronese die Farbe Gelb in seinen Bildern nicht nur zu akkommodieren, sondern in voller Pracht zum Strahlen zu bringen, ohne dass die übrigen Farben geschwächt werden und das Kolorit insgesamt aus dem Gleichgewicht gerät? "Zuviel Gelb ist nicht gut für ein Bild", warnt eine alte akademische Hausregel. Helmholtz hilft dem Kunstwissenschaftler auf die Sprünge, indem er den Farbgebrauch des Malers an Thomas Youngs trichromatischer Farbtheorie misst: Veronese verschiebt die Gewichte der drei Grundfarben Rot, Grün und Blau dahingehend, dass das Rot nach Blau und das Blau nach Grün tendiert und so eine Spannung von Purpurrot und Grünblau entsteht, in der die Farbe Gelb durch die alterierten Rot- und Grünanteile des Kolorits den gehörigen Ort in einer beweglichen Totalität der Farbwahrnehmung bekommt. Die von Helmholtz beobachtete Trias Purpurrot, grünlich Blau und Gelb erklärt keineswegs den poetischen Reichtum von Veroneses Malerei, aber die physiologische Analyse hilft, ihren künstlerischen Rang zu begreifen.

Gibt es Möglichkeiten für Kunst und Wissenschaft eines gemeinsamen Forschens und Arbeitens?

Das ist eine interessante Frage. Der Optimismus, mit dem seit Mitte der 1960er Jahre immer wieder gemeinsame Projekte von Kunst und Wissenschaft lanciert werden, ist nicht allein schon wegen der guten Absicht sinnvoll und erfolgversprechend. Der kritische Punkt in der Frage der Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern heute ist meines Erachtens das Problem der Wahrnehmung. Denn nicht nur das Vorgehen der Naturwissenschaften hat sich in dieser Hinsicht seit Hermann von Helmholtz erheblich verändert, sondern auch die Praxis der meisten Künstler ist nicht mehr die der Arbeit vor dem Motiv.

Vor ein paar Jahren hat mir ein Bekannter, ein Romanist, von der Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit berichtet, mit einem befreundeten Biologen ein Gespräch darüber zu führen, was Natur für ihn bedeute. Während er von Landschaften, schönen Dingen und Erfahrungen mit Tieren erzählte, habe der Kollege achselzuckend bekannt, für ihn sei Natur das, was er auf dem Bildschirm zu sehen bekomme: endlose Kolonnen von Zahlen und Streifenmuster von meist buntfarbigen Skalen. In der naturwissenschaftlichen Forschung hat längst die Nachrichtentechnologie die Auswertung und Verarbeitung der Laborversuche übernommen. Die exakte Information hat der physiologisch konditionierten Wahrnehmung den Rang abgelaufen. Die Ungleichartigkeit und Unähnlichkeit der Zeichen hat in den Naturwissenschaften einen Grad der Abstraktion erreicht, der zu Helmholtz' Zeiten noch undenkbar gewesen wäre.

Was lediglich wie ein Beleg für Snows These vom Auseinanderdriften der "Zwei Kulturen", der ästhetisch-humanistischen und der naturwissenschaftlich-technologischen, aussieht, reicht mittlerweile tiefer. Die Verkürzung der sinnlichen Wahrnehmung auf das Erfassen und Auswerten von Informationen erschwert nicht nur die Kommunikation zwischen anschauungsverhafteten und datenbasierten Wissenschaften, sondern hat längst die Alltagssprache zu affizieren begonnen. Die massenhafte Verfügbarkeit der digitalen Nachrichtenmedien fördert eine Ökonomisierung der Kommunikation, die der differenzierten Wahrnehmung eher abträglich ist. Das gesprochene Wort gerät dadurch unweigerlich ins Hintertreffen gegenüber der Abstraktion der Schriftzeichen. Die Entzifferung von Akronymen, die in vielen Bereichen an die Stelle der ausdrücklichen Benennung getreten sind, mag zuweilen als lästig empfunden werden; und die Schluckauf- oder hickup-Prosodie, die entsteht, wenn Sprecher*innen die grassierenden Gender-Sternchen in die Umgangssprache übersetzen, hat durchaus eine komische Seite. Ja, vielleicht ist die Verkürzung der Wahrnehmung auf das Maß von Information sogar die einzige Möglichkeit, wie wir mit einem Übermaß an Realität zurechtkommen können: Wie anders als durch Skalen, Kurven, Zahlen können wir das globale Desaster der Corona-Pandemie überhaupt wahrhaben und konfrontieren? Aber die Rechtfertigung durch das Übermaß verliert allen Kredit, wenn man einer Notlage einen scheinbaren Vorzug abzugewinnen sucht wie die Schlauberger, die frohlocken, dass die Pandemie die Digitalisierung des Schulunterrichts vorantreibe. Was für eine Verkennung der Lage! Genau genommen sind nicht wir, die Alten, die Risikogruppe, sondern die Kinder und Jugendlichen, die am Anfang eines unbekannten Weges stehen. Abgesehen von der Reduzierung der sozialen Kontakte beraubt der entkörperlichte Unterricht die Schüler einer ganzen Skala von Wahrnehmungen, ohne die es kein wirkliches Lernen gibt: physische Distanz, Mimik, Gestus, Intonation sind unentbehrliche Darstellungselemente, um über der Vermittlung von Wissen zugleich die eigene Sprach- und Mitteilungsfähigkeit zu entdecken.

Doch zurück zur Frage nach der Möglichkeit gemeinsamen Forschens und Arbeitens von Künstlern und Wissenschaftlern. Die Beispiele für den Verluste an "Sinnesgegenwart" (Nietzsche), der mit der Ausbreitung der digitalen Nachrichtentechnologie einhergeht, zeigen lediglich, dass die allenthalben propagierte Verwissenschaftlichung offenbar keine Option für ein gedeihliches Zusammenwirken von Kunst und Wissenschaft ist. Eher das Gegenteil. In meiner Zeit als Hochschullehrer, als ich sowohl die sogenannten Freien wie angehende Kunsterzieher zu unterrichten hatte, ist mir klar geworden, wie kontraproduktiv die pädagogische List ist, die jungen Leute bei ihrer digitalen Faszination und Kompetenz zu packen und sie zum kreativen Experimentieren mit Computerprogrammen zu animieren. Die bloße Anwendung einer avancierten Technologie verkennt die Konstellation, in der sich Kunst und Wissenschaft heute einander gegenüberstehen. Denn die zeitgenössische bildende Kunst, die in ihrer geschichtlichen Grundstellung immer noch die moderne des 19. und 20. Jahrhunderts ist, behauptet unverändert den Vorrang der Wahrnehmung; aber die Künstler haben diesen Vorrang gleichsam auf die Spitze getrieben, indem sie auf ihre Weise abstrakter zu Werke gehen, als es sich ihre Vorgänger je hätten träumen lassen. Dabei ist es relativ gleichgültig, ob die Stilmittel abstrakt oder figürlich sind, der Schwerpunkt der Wahrnehmung liegt bei Bildern von Mark Rothko und Francis Bacon gleichermaßen nicht mehr auf dem Bezug zu einem externen Motiv, sondern auf der unmittelbaren Präsenz der Werke selbst. Das heißt, die von Helmholtz herausgestellte Bewandtnis, dass Ähnlichkeit keine notwendige Bedingung der Signifikanz von Zeichen ist, erscheint dahingehend radikalisiert, dass Unähnlichkeit, der Entzug der direkten Wiedererkenntnis geradezu zu einem Kennzeichen moderner Kunst geworden ist. Durch das bewusste Zurücksetzen der kognitiven Reaktion gewinnt die Wahrnehmung eine Offenheit, die das Sehen selbst in den Vordergrund rückt und bedeutsam macht.

Akzeptiert man diese entgegengesetzte Tendenz von künstlerischer und wissenschaftlicher Abstraktion, dann ergibt sich unter Umständen tatsächlich die Möglichkeit einer fruchtbaren Begegnung. So haben zum Beispiel Robert Irwin und James Turrell, zwei kalifornische Künstler, die durch die Erforschung der Wahrnehmung von Farbe und Licht im Raum bekannt geworden sind, Ende der 1960er Jahre in Los Angeles an Laborexperimenten mitgearbeitet, bei denen es um die Bewegung und Orientierung in Räumen ohne Schwerkraft, Schall und Grenzparameter ging. Dass die beiden Installationskünstler vorwiegend an den technologischen Ressourcen dieses Projekts interessiert waren, darf angenommen werden; ebenso ist zu vermuten, dass die Wissenschaftler froh waren, Experten für die Konzeption von Versuchsanordnungen zur Seite zu haben, die ihnen erlaubten, zu finden, was sie suchten. Die Ergänzung war perfekt, aber eben doch beschränkt. James Turrell kam zu der Überzeugung, dass Künstler weit mehr mit der Erforschung der Grenzen der Wahrnehmung zu tun haben als Wissenschaftler: "Der Grundunterschied liegt wohl in der Absicht: Ich bin mehr daran interessiert, Fragen zu stellen, als sie zu beantworten." Auch Künstler forschen, wenn auch in unterschiedlichen Graden; aber selbst diejenigen, denen es bewusst um die Erweiterung von Erfahrung geht, sind nicht primär daran interessiert, was das ist, was sie finden. Der Erfolg des Findens ist ihnen an sich schon Resultat genug. Das scheint in der heutigen Situation die Ebene für eine mögliche Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft zu sein.

Vielen Dank für dieses Gespräch.

04.01.2021 , Das Interview führte Ilja Bohnet.

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