Wer war Hermann von Helmholtz

Ein Leben für die Wissenschaft

Von Wissenschaftshistorikern wird Hermann von Helmholtz in einer Reihe mit so großen Namen wie Alexander von ­Humboldt, Max Planck, Charles Darwin und Louis Pasteur genannt. Doch wie lässt sich Helmholtz’ Status als Wissenschafts­ikone erklären?

Am 31. August 2021 jährt sich der Geburtstag des Wissenschaftlers und Naturphilosophen Hermann Ludwig  Ferdinand Helmholtz zum 200. Mal. Er kam in Potsdam als Sohn einer einfachen Familie und ohne Privilegien zur Welt, damals noch ohne „von“ im Namen. Weder sein Vater, ein gewöhnlicher Gymnasiallehrer, noch seine Mutter, eine bescheidene, zurückhaltende Hausfrau, hatten Geld oder eine hohe gesellschaftliche Stellung mit in die Ehe gebracht. Die Familie war zwar nicht arm, hatte aber Mühe, mit dem begrenzten Gehalt des Vaters auszukommen. Der Besuch der Universität blieb Hermann – dem ältesten von sechs Kindern, von denen zwei ziemlich jung starben – daher versagt, weshalb er sich für ein Studium am Medizinisch-Chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Institut in Berlin entschied und sich im Gegenzug zu einem anschließenden Militärdienst verpflichtete. 

Als Hermann von Helmholtz schließlich im Januar 1883 das Adelsprädikat verliehen wurde, war er seit Generationen der Erste, der von Preußen für seine wissenschaftlichen (und nicht militärischen oder politischen) Leistungen auf diese Weise geehrt wurde. Er war sehr stolz auf seinen nunmehr hohen gesellschaftlichen Rang und betrachtete ihn als einen seiner größten Erfolge. Zudem war er stolz darauf, ein Kulturträger zu sein (und sah sich auch selbst als solchen). Seinen Aufstieg in der deutschen Gesellschaft hatte er, neben viel harter Arbeit, Talent und Glück, seiner umfassenden Bildung zu verdanken. Und es waren vor allem seine zahlreichen herausragenden Leistungen in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und seine Fähigkeit, anderen die wichtigsten Erkenntnisse, Methoden und Ziel-setzungen der Wissenschaft zu erklären – deren Grundlagen ihm durch seinen Vater, den Schul-besuch in Potsdam und seine Ausbildung am medizinischen Institut vermittelt worden waren.Helmholtz’ wissenschaftliche Leistungen und seine philosophischen Reflexionen über Wissenschaft füllen sieben dicke Bücher. In den drei Bänden „Wissenschaftliche Abhandlungen“ (1882–95) sind rund 175 wissenschaftliche Originalartikel (vor allem zu Physiologie und Physik, aber auch zu Meteorologie, Chemie und anderen Wissenschaften) enthalten: Das dreiteilige „Handbuch der physiologischen Optik“ (1856–67) prägte über seinen eigentlichen Gegenstand hinaus auch die verwandten Bereiche der Augenheilkunde (also Medizin) und Psychologie. Durch „Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“ (1863) wurde die Erforschung der wissenschaftlichen Grundlagen der Musik neu ausgerichtet und gestärkt. Und in den zwei Bänden „Vorträge und Reden“ (1884), einer Sammlung populärwissenschaftlicher und philo­sophischer Essays, werden dem gebildeten Publikum Wesen und Methoden sowie die wichtigsten neueren Ergebnisse und Gesetze der Wissenschaft erläutert. Hinzu kommen seine sieben­teiligen, posthum in sechs Bänden veröffentlichten „Vorlesungen über Theoretische Physik“ (1897–1907). Er war enorm produktiv und befasste sich mit einer großen Bandbreite an Themen, mit einer Originalität, die von kaum jemandem seiner Zeitgenossen übertroffen wurde. 

Daneben verfolgte Hermann von Helmholtz eine universitäre Laufbahn (und lehrte) in Königs­berg, Bonn, Heidelberg und Berlin. Außerdem war er am Aufbau von drei wissenschaftlichen Instituten beteiligt, die er allein leitete (eines für Physiologie in Heidelberg, eines für Physik in Berlin und die Physikalisch-Technische Reichs­anstalt für Physik und Metrologie in Charlottenburg). Er war ein Arbeitstier, zeitweise ein regelrechter Workaholic, und schon lange vor seinem Tod am 8. September 1894 die führende Kapazität in der deutschen Wissenschaft: Er war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das, was Alexander von Humboldt in der ersten Hälfte gewesen war – und das, was Max Planck in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden sollte. An seinen wissenschaftlichen Ruhm und seinen Status einer Ikone reichten damals wohl höchstens Charles Darwin und Louis Pasteur heran.

Was steht hinter Hermann von Helmholtz’ breit gefächerten und fundierten Leistungen und wie lässt sich sein Status als Wissenschaftsikone erklären? Anders ausgedrückt: Welche geistigen Leitmotive und Triebkräfte ziehen sich durch sein kreatives wissenschaftliches, philosophisches und ästhetisches Leben? Drei große Themen fallen ins Auge: Erstens besaß Hermann von Helmholtz ­einen leidenschaftlichen Willen, die Wissen-schaften zu einen, sowohl innerhalb der einzelnen Disziplinen als auch zusammen als geeinte Natur­wissenschaft. So suchte er nach allgemeinen, übergeordneten Gesetzen und stringenten Konzepten für die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, mit denen er sich beschäftigte. Zudem entdeckte er enge Beziehungen zwischen Physiologie und Physik – nicht zuletzt durch seinen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Energieerhaltungs­satzes –, zwischen der Physiologie und seiner Entwicklung der nicht euklidischen Geometrie, zwischen Physik und Geometrie im Allgemeinen, zwischen Physik und chemischer Thermo­dynamik sowie zwischen Physik und Meteorologie. Auf breiterer Ebene zeigte er auf, wie sich die von ihm und anderen entdeckten wissenschaftlichen Gesetze und verschiedenen Erkenntnisse auf die Medizin, experimentelle Psychologie, Philosophie, Musik und Malerei auswirkten. Er versuchte, das menschliche Sehen, den Schall und die Wärme zu verstehen – vor allem durch das Verständnis der physikalischen und physiologischen Gesetze, denen sie folgen. Dabei bewies er eine verblüffende Fähigkeit zur Synthese von Ideen, Konzepten, Theorien und Ergebnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und von verschiedenen Personen. Doch obwohl er lange gehofft hatte, einen übergreifenden Rahmen empirisch gestützter allgemeiner Grundsätze entwickeln zu können, der alle Wissenschaften einbeziehen würde, erwies sich ein solches Weltbild als schwer greifbar.

Berühmte Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfolger (v.l.n.r., oben) Alexander  von Humboldt, Max Planck, (unten) Charles Darwin, Louis Pasteur. Helmholtz war daran beteiligt, dass sich James Maxwells Theorie zum Elektromagnetismus durchsetzte. Bilder: Lukiyanova Natalia frenta/Shutterstock.com, Joseph Karl Stieler, picture alliance/ullstein bild, John Collier, picture alliance/United Archives/WHA, picture alliance/ Bianchetti/leemage
Berühmte Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfolger (v.l.n.r., oben) Alexander von Humboldt, Max Planck, (unten) Charles Darwin, Louis Pasteur. Helmholtz war daran beteiligt, dass sich James Maxwells (rechts) Theorie zum Elektromagnetismus durchsetzte. Bilder: Lukiyanova Natalia frenta/Shutterstock.com, Joseph Karl Stieler, picture alliance/ullstein bild, John Collier, picture alliance/United Archives/WHA, picture alliance/ Bianchetti/leemage

Zweitens verwandte Hermann von Helmholtz viel Aufmerksamkeit auf ­erkenntnistheoretische Fragen, also auf die Quellen und Methoden des Wissens. Er betonte, wie überaus wichtig das Entdecken und sorgfältige Auswerten von empirischem Wissen, also das Zusammentragen und Einordnen der Fakten, sei. Insbesondere vor diesem Hintergrund widmete er die erste Hälfte seiner Laufbahn großenteils dem Studium der Anatomie und Physiologie des menschlichen Auges und Ohres. Er führte die von ihm und anderen gewonnenen Erkenntnisse in der Anatomie, Physiologie, Optik und Geometrie zusammen und erfand neben vielem anderen 1850/51 den ersten Augenspiegel, mit dem sich die Netzhaut beim lebenden Menschen betrachten lässt. (Sein Ansehen beruhte in erster Linie auf dieser Erfindung, mehr als auf irgendeiner anderen seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Theorien.) In seiner theoretischen Analyse des Mikroskops zeigte er darüber hinaus, dass es eine Grenze für das optische Auflösungsvermögen gibt. Zudem trug er, um noch ein letztes Beispiel zu nennen, viel zur Beurteilung der ­Stärken und Schwächen der Mitte des Jahrhunderts rivalisierenden deutschen und britischen elektromagnetischen Theorien bei, machte die Wissenschaftler auf dem europäischen Kontinent auf die Theorie von James Clerk Maxwell aufmerksam und war mit daran beteiligt, dass diese sich schließlich durchsetzte. Maßgeblich war für Hermann von Helmholtz’ Bemühungen, nach seiner eigenen Aussage, ein psychologisches Bedürfnis, in der Wissenschaft Gesetzmäßigkeiten zu entdecken oder aufzustellen. Diesen Drang habe er schon in seiner Kindheit entwickelt, um das, was er als die Unzulänglichkeiten seines mangel­haften Gedächtnisses bezeichnete, zu kompensieren. Später wurde daraus das Kernstück seiner Wissenschaftsphilosophie. Für Hermann von Helmholtz ermöglichten Gesetze das Verstehen (und die Beherrschung) der Natur. Allgemeine Gesetze stellten nach seiner Auffassung die ­höchste Stufe der Wissenschaft dar, die sich folglich vor allem um solche Gesetze bemühen sollte. Zwei Zeilen aus Schillers „Der Spaziergang“, die Hermann von Helmholtz besonders mochte, fassen auf eindringliche, poetische Weise den Kern dessen zusammen, worum es ihm in der prosaischen Wissenschaft ging: „Sucht das vertraute Gesetz in des Zufalls grausenden Wundern,/ Sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.“ Die Wissenschaft suchte in den empirischen Wundern der Natur nach Gesetzen.

Drittens schließlich besaß Helmholtz einen feinen Sinn für die komplementären und sich gegenseitig befruchtenden Rollen von Kunst und Wissenschaft. Seit seiner Jugend hatten die Künste für ihn zentrale Bedeutung: Er spielte Klavier, las literarische Werke, besuchte Theateraufführungen und Konzerte und betrachtete in Kunstmuseen Gemälde und Skulpturen. Als Wissenschaftler versuchte er, die Natur der Töne und Farben zu verstehen, nicht zuletzt in ihrer Erscheinung als Musik beziehungsweise Malerei. Er interessierte sich zudem dafür, wie Maler durch den Einsatz von Farbe und die Darstellung von Gegenständen in unterschiedlicher Entfernung räumliche Tiefe suggerieren, und versuchte zu verstehen, wie Auge und Ohr des Menschen Farben beziehungsweise Töne wahrnehmen. Er entwickelte die physiologische Akustik und Optik und nutzte diese wiederum für ein besseres Verständnis der auditiven und visuellen Wahrnehmung. Die Künste waren für Helmholtz einerseits Inspiration und Entspannung und andererseits zumindest teilweise Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis: Es war ein Geben und Nehmen. Er war überzeugt, dass Künstler ebenso wie Wissenschaftler Gesetze ausdrücken, selbst wenn diese Gesetze niemals in der Weise oder in dem Maße artikuliert werden können wie die Naturgesetze.

Hermann von Helmholtz war zwar sehr vielseitig, konnte aber bei Weitem nicht alle wichtigen wissenschaftlichen Probleme, mit denen er sich beschäftigte, lösen, genauso wenig wie es ihm gelang, eine einheitliche Analyse der Wissenschaft als Ganzes zu entwickeln oder ein (für ihn selbst oder für andere) voll befriedigendes Verständnis ihrer komplexen erkenntnistheoretischen Grundlagen zu erreichen. Wie Newton vor ihm, Darwin zu seinen Lebzeiten oder Einstein nach ihm – wie wohl alle Wissenschaftler zu allen Zeiten – konnte er nicht sämtliche wissenschaftlichen Probleme lösen, die ihn umtrieben. Er war überzeugt, dass die Probleme der Wissenschaften letztlich nur von der wissenschaftlichen Gemeinschaft insgesamt zufriedenstellend gelöst werden können. Wissenschaft, so glaubte er, bedeute einen Zivilisations-gewinn für die gesamte Menschheit. Für ihn war die Wissenschaft eine zivilisatorische Kraft.

Der Text stammt aus David Cahans Buch „Helmholtz: A Life in Science“ (Chicago und London: University of Chicago Press, 2018). Im Juni 2021 wird die deutsche Fassung „Helmholtz: Ein Leben für die Wissenschaft“ im wbg-Verlag erscheinen. David Cahan ist Charles-Bessey-Professor für Geschichte an der University of Nebraska-Lincoln und hat 25 Jahre an der aktuellen Helmholtz-Biografie gearbeitet.

„Der Fehler liegt in der Terz“

Podcast: David Cahan über Hermann von Helmholtz

„Die Arbeit hat Implikationen bis heute“

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