Helmholtz heute

Die Vermessung des Lebendigen

In der modernen Biophysik ist die Forschung von Hermann von Helmholtz allgegenwärtig. Und auch die Fragen von damals haben sich nicht grundlegend verändert – allem großen Erkenntnisfortschritt zum Trotz.

Selbstorganisation: Wie Nervenzellen mit den sogenannten Gliazellen kommunizieren, erforscht die Neuro­biologin ­Christine Rose. Bild: Jan Meyer
Selbstorganisation: Wie Nervenzellen mit den sogenannten Gliazellen kommunizieren, erforscht die Neuro­biologin ­Christine Rose. Bild: Jan Meyer

Was ist Leben und woher kommt es? Für den Physiologen Emil Heinrich du Bois-Reymond, Mitbegründer der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) und enger Freund und Mitstreiter von Hermann von Helmholtz, gehörte diese Fragestellung zu einem der sieben „Welträtsel“. Und auch Hermann von Helmholtz beschäftigte sich intensiv damit. Die Mehrzahl der Physiologen seiner Zeit sahen als Ursache für das Leben eine „Lebensseele“ an, die in einem Organismus die chemischen und physikalischen Kräfte im Gleichgewicht hält. Hermann von Helmholtz aber gab sich mit dieser metaphysischen Erklärung nicht zufrieden. Eine Lebensseele, die wie ein Perpetuum mobile aus dem Nichts Energie erzeugt? Das war für ihn als Erklärung inakzeptabel. Er zeigte, dass Energie weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur in andere Formen umgewandelt werden kann – der erste Hauptsatz der Thermodynamik auf universeller Ebene war geboren.

„Helmholtz belegte als Erster das Gesetz der Energieerhaltung und -umwandlung und konnte überdies beweisen, dass sich äußere Energie im Organismus speichern lässt.“

„Helmholtz’ Schlussfolgerung, dass lebende Systeme eine äußere Energiequelle benötigen, stellt einen ganz grundlegenden Erkenntnisfortschritt dar“, sagt die Biophysikerin Petra Schwille vom Max-Planck-Institut für Biochemie (MPIB) bei München. Sie untersucht gemeinsam mit ihrer Arbeitsgruppe die fundamentalen Merkmale des Lebens auf molekularer Ebene. „Helmholtz belegte als Erster das Gesetz der Energieerhaltung und -umwandlung und konnte überdies beweisen, dass sich äußere Energie im Organismus speichern lässt. Das Leben schafft es unter Aufnahme von Energie von außen, eigene Strukturen aufzubauen und zu erhalten.“ Für Petra Schwille ist das nach wie vor ein Wunder der Natur. Denn: „Die Natur ist eigentlich auf Durchmischung aus, sprich auf ein thermisches Gleichgewicht.“ Das lässt sich gut an einer Tasse Kaffee veranschaulichen: Gießt man etwas kalte Milch in einen heißen Kaffee, vermischen sich die beiden Flüssigkeiten und tauschen ihre Wärmeenergie aus – bis eine Gleichgewichtstemperatur erreicht ist, der Kaffee sich durch die Milch abgekühlt hat.


„Die Grundbausteine von Zellen aber, also lebende Materie, können sich entmischen und eine langfristige Ordnung aufbauen“, erklärt Petra Schwille. Das „Anstrampeln“ gegen die eigentlich natürliche spontane Durchmischung gelingt laut der Biophysikerin nur dadurch, dass das Leben auf Musterbildung setzt und Energie in Ordnung und komplexe Strukturen umwandelt – also ein organi­siertes Zusammenspiel von unterschiedlichen Proteinen in einem vielschichtigen Gesamtsystem. Eine grundlegende Erkenntnis, die Hermann von Helmholtz ganz wesentlich vorbereitet hat.

Dynamik in biologischen Systemen: Andreas Stadler (rechts) und Tobias Schrader untersuchen  den Zusammenhang ­zwischen Proteinfaltung und -dynamik  am Neutronen-Spin-Echo-Spektrometer an der Spallation  Neutron Source (Oak Ridge National Lab, USA). Bild: Piotr Zolnierczuk
Dynamik in biologischen Systemen: Andreas Stadler (rechts) und Tobias Schrader untersuchen den Zusammenhang ­zwischen Proteinfaltung und -dynamik am Neutronen-Spin-Echo-Spektrometer an der Spallation Neutron Source (Oak Ridge National Lab, USA). Bild: Piotr Zolnierczuk

Auch Christine Rose, die am Institut für Neurobiologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf forscht, sieht eine Reihe von Parallelen zwischen ihrer biophysikalischen Arbeit und der von Helmholtz. „Wir beschäftigen uns mit der Funktionsweise von Gehirnzellen. Bei unseren Untersuchungen geht es hauptsächlich darum, wie Nervenzellen mit den sogenannten Gliazellen kommunizieren. Auch Hermann von Helmholtz trieb die grundsätzliche Frage um: Wie arbeiten Nervenzellen? Wie tauschen sie sich miteinander aus?“ Bereits in seiner Doktorarbeit untersuchte er die Anatomie des Nervensystems und wies nach, dass die Nervenfasern von wirbellosen Tieren ihren Ursprung in den sogenannten Ganglien­zellen haben. Später entwickelte er eine Messapparatur, mit der er die Leitungsgeschwindig­keit von Aktionspotenzialen bestimmte. Das sind elektrische Signale von Nervenzellen, wie Christine Rose und ihr Team sie auch heute noch untersuchen – wenngleich inzwischen mit Hightech-­Methoden, die zu Helmholtz’ Zeiten undenkbar waren. Christine Rose und ihr Team erforschen beispielsweise, was passiert, wenn dem menschlichen Gehirn wie etwa bei einem Schlaganfall nicht ausreichend Energie zugeführt wird und die Gehirn­zellen dadurch ihre Funktionsfähigkeit verlieren. Gemeinsam mit Kollegen tritt Christine Rose noch an anderer Stelle in die Fußstapfen von Hermann von Helmholtz. Sie ist Professorin der „International Helmholtz-Research School of Biophysics and Soft Matter“ (IHRS BioSoft), des Graduiertenkollegs am Forschungszentrum Jülich, das in Kooperation mit Universitäten, der Helmholtz-Gemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft betrieben wird. Wer sich das Themenspektrum der IHRS anschaut, findet dort Arbeiten über „Selbstorganisationsprozesse in biophysikalischen Sys­temen“, über die „thermodynamische Nichtgleichgewichtsphysik und Proteindynamik“ und über die „biologische Signalverarbeitung“ – die Bandbreite und interdisziplinäre Arbeitsweise ihres Namenspatrons pflegen die Forscher bis heute.

Andreas Stadler vom Forschungszentrum Jülich nähert sich der Frage nach dem Leben von einer anderen Seite. Er ist Biophysiker und beschäftigt sich gemeinsam mit seiner Arbeits­gruppe vor allem mit der Dynamik von Bio-molekülen. „Wir versuchen, die Struktur und Dynamik von Proteinen und ihre Funktionsweise zu verstehen.“ Auch für Stadler nimmt Hermann von Helmholtz eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der Biophysik ein. „Er war der Erste, der konsequent und systematisch physikalische Methoden angewandt hat, um biologische und physiologische Sachverhalte zu verstehen.“ Die Thermodynamik und die statis­tische Physik seien zu jener Zeit maßgeblich von Hermann von Helmholtz weiter-getrieben worden. So führte er grundlegende Begriffe ein, die unverzichtbar sind, um die physikalischen Prozesse auf molekularer Ebene zu verstehen. „Besonders hervorzuheben ist hierbei der Begriff der ‚Entropie‘, was die Unordnung oder Beweglichkeit eines ­Systems beschreibt“, erklärt Andreas ­Stadler. „Und da sehe ich einen direkten Zusammenhang zu der Arbeit von Hermann von Helmholtz. Er versuchte, die Beweglichkeit von Systemen auf molekularer Ebene zu verstehen und wie diese Dynamik das Verhalten des Gesamtsystems beeinflusst.“ Damals untersuchte er insbesondere ideale Gase – einatomige Moleküle, die keinerlei Wechsel­wirkung zeigen.

„Das hätte Hermann von Helmholtz bestimmt erstaunt, aber sicherlich auch sehr erfreut.“

Was ist Leben? Die Biophysikerin Petra Schwille versucht zu ergründen, was fundamen­tale Merkmale des Lebens auf molekularer Ebene sind. Bild: Axel Griesch für MPG
Was ist Leben? Die Biophysikerin Petra Schwille versucht zu ergründen, was fundamen­tale Merkmale des Lebens auf molekularer Ebene sind. Bild: Axel Griesch für MPG

Heute werden Helmholtz’ Entwicklungen auf hochkomplexe biologische Systeme wie Bio- und Makromoleküle übertragen. „Das hätte Hermann von Helmholtz bestimmt erstaunt, aber sicherlich auch sehr erfreut“, sagt der Bio­physiker. Aber was ist nun Leben? Diese Frage hält Petra Schwille, die Münchner Max-Planck-Forscherin, nach wie vor für ungeklärt. Es gebe zwar diverse Anhaltspunkte wie etwa die Fähigkeit zum Metabolismus (Stoffwechsel) und zur Replikation (Nachwuchserzeugung) oder die Informationsverarbeitung und die Bewegung – „aber einen festen Satz an Kriterien, um Leben zu kategorisieren, haben wir nach wie vor nicht“.

„Wie es zu den komplexer werdenden, sich weiterentwickelnden Strukturen in lebenden Systemen kommt, von Zellen zu Geweben und Organen bis zu einem komplexen Organismus, ist noch völlig unverstanden.“

Die eigentlich spannende Frage ist für Petra Schwille, was das Leben zur Strukturbildung antreibt. „Sie lässt sich zwar auf molekularer Ebene gut nachvollziehen, sprich auf Ebene von Proteinen und Enzymen. Aber wie es zu den komplexer werdenden, sich weiterentwickelnden Strukturen in lebenden Systemen kommt, von Zellen zu Geweben und Organen bis zu einem komplexen Organismus, ist noch völlig unverstanden.“ Nach welchen Prinzipien organsiert und strukturiert sich also lebende Materie? Obwohl die Antwort darauf essenziell ist, um letztlich die Kernfrage „Was ist Leben?“ beantworten zu können, geht laut Petra Schwille die Weiterentwicklung auf diesem Gebiet nur sehr schleppend voran. „Uns fehlt noch ein fundamental neuer theoretischer Ansatz, um das Phänomen ‚Leben‘ und die entsprechende ‚Physik im Ungleichgewicht‘ wirklich grundlegend zu begreifen.“ Petra Schwille ist deshalb fest davon überzeugt, dass es auf dem Gebiet der Thermodynamik noch zu einem Paradigmenwechsel kommen wird. Das wäre Hermann von Helmholtz nur recht gewesen. Er war Neuem gegenüber stets aufgeschlossen und wusste: „Jedoch das Gebiet, welches der unbedingten Herrschaft der vollendeten Wissenschaft unterworfen werden kann, ist leider sehr eng, und schon die organische Welt entzieht sich ihm größtenteils.“ Das hat ihn aber nicht von der Vermessung des Lebendigen abhalten können – und ihn zu fundamentalen Erkennt­nissen geführt, die die Forschung bis heute beschäftigen.

Autor: Ilja Bohnet

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